Erschütterte Gesellschaft ‒ Reflexionen über einen veränderten (Zeit)geist

Karin Distler · 

Gerade für uns junge Menschen hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert. Strukturen und Normen sind weggefallen. Zurückgeblieben ist vor allem Verunsicherung.

Je weniger Sicherheit Geld und Arbeit bieten können, desto wichtiger wird eine andere Währung: Zeit. Und davon, wann diese "gewinnbringend" eingesetzt ist, hat jede:r ganz eigene Vorstellungen...

Das Miteinander hat sich seit Corona verändert, da sind wir uns wohl alle einig. Greifbar wird das spätestens, wenn man aktuell eine Veranstaltung plant. Zwar gibt es keine Coronabeschränkungen mehr, es darf wieder jede:r unbegrenzt viele Gäste einladen. Trotzdem mutiert die ein oder andere rauschende Party derzeit zum Dinner for One. Doch woran liegt das? Mangelnde Entschlussfähigkeit, übervoller Terminkalender, sozialer Überdruss?

Die Coronajahre sind nicht spurlos an den Menschen vorbeigegangen. Ständig neue Regeln, welche sozialen Interaktionen nun in Ordnung sind und welche nicht, waren an der Tagesordnung. Soll ich wirklich ein Treffen mit Freunden anvisieren, wenn das heute noch erlaubt ist, aber nächste Woche vielleicht schon nicht mehr? Soll ich Zeit und Geld in die Organisation einer Geburtstagsfete stecken, wenn bis dahin schon wieder ein Lockdown beschlossen werden könnte und dann alle Mühe umsonst war? Sämtliche Sicherheiten im sozialen Gefüge scheinen vor unseren Augen weggebrochen zu sein. Verhaltensweisen, die seit Jahrzehnten gängige Praxis waren, wurden nun zur Bedrohung für Leib und Leben. Die Verunsicherung war groß. Und sie wirkt nach.

Das merkt man in dieser Hinsicht vor allem, wenn es darum geht, die Menschen frühzeitig an ein Event zu binden, z.B. durch Kartenvorverkauf. Lieber erstmal abwarten, scheint hier der allgemeine Tenor zu sein. Könnte ja noch einiges dazwischenkommen und wer weiß, ob die Welt in einem Monat noch dieselbe ist! Spätestens seitdem auch die letzte Grundfeste unseres Sicherheitsgefühls, der Frieden vor der eigenen Haustür, ins Wanken geriet, scheint das alles andere als gewiss zu sein. Die ein oder andere Veranstaltung muss daher schon wieder abgeblasen werden, bevor sie überhaupt angefangen hat.

Am eigenen Leibe erfahre ich die veränderten Sitten immer wieder bei Veranstaltungen, die ich in Studium und Praktika plane und begleite. Kurzfristige Zu- und Absagen in großen Mengen sind an der Tagesordnung, oft auch kommentarloses Fernbleiben. Was früher als Fauxpas galt, ist mittlerweile völlig normal!

Dazu kommt der Faktor der immer weiter zunehmenden Unsicherheit durch Inflation und Zukunftsängste. Als Reaktion darauf beobachte ich in meinem Bekanntenkreis zwei Tendenzen: Erstarrung oder Lebenshunger. Erstere Gruppe zeichnet sich durch zaudernde Unentschlossenheit aus, durch Rückzug und Flucht in bekannte Strukturen. Biedermeier lässt grüßen. Bei zweiterer hingegen lässt sich genau das Gegenteil beobachten: Alles mitnehmen, solange man noch kann. Urlaub, Sonne, schöne Erinnerungen. Hedonistische Anwandlungen, möchte man meinen! Daran merkt man, dass der seit Jahren fortschreitende Prozess der zunehmenden Individualisierung durch die Anforderungen, die die letzten Jahre an unsere Solidarität und unseren Gemeinschaftssinn gestellt haben, nicht gebremst wurde. Er zeigt sich nur anders. Statt Höher-schneller-weiter-Mentalität und Konsumrausch legen viele Menschen ihren Fokus jetzt auf kleinere Freuden. Und worin diese Freuden denn nächsten Monat bestehen werden, lässt sich eben im Vorhinein nicht so genau planen. Kommt auch darauf an, wie viel teurer bis dahin wieder alles geworden ist.

Hier zeigt sich im Kleinen, welche Leitlinien unsere Gesellschaft derzeit bewegen: Der vollständige Wegfall von Sicherheiten durch äußere Strukturen führt zur Orientierungslosigkeit im Inneren. Darauf reagiert jede:r anders und versucht, sich eigene Anker im Meer der Unsicherheit zu schaffen. Soziale Events haben im Laufe dieses Prozesses ihren Stellenwert als gesellschaftliche Pflichtveranstaltungen zum Teil verloren. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, eröffnet es doch einen Raum für freiere Formen der Zeitgestaltung. Jedoch birgt die Entwicklung auch die Gefahr, die Entfremdung voneinander voranzutreiben. Wichtig ist es daher nach wie vor, die Mitmenschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Wenn nicht auf einer größeren Veranstaltung, dann bei einem gemütlichen Stündchen mit den besten Freund:innen.